Tektonik des Hybriden – Die konstruktive Intelligenz der Wiener Gründerzeithäuser
Dissertant: Thomas Sommerauer
Betreuerin: Astrid Staufer
Ausgangssituation
Vor dem Hintergrund der Klimakrise besteht die dringende Notwendigkeit eines erkenntnistheoretischen Paradigmenwechsels im Feld der Architektur. Es ist an der Zeit für eine kritische Selbstreflexion der Bau- und Planungspraxis des 20. und 21. Jahrhunderts. Gewohnte entwerferische und bautechnische Formen des Handelns, in denen ein Bewusstsein um die enorme Energieintensität des Bauens keine ausreichend große Rolle gespielt hat, müssen hinterfragt werden. Die Krise ist zugleich Chance für das Nachdenken über ein gesamthaft gedachtes, qualitätsvolles und ressourcenschonendes Bauen im Zeichen eines poetischen Pragmatismus1, welcher der Komplexität und Fülle der Wirklichkeit mit positiven Zukunftsbildern begegnet, die nicht auf idealisierten und vorgefertigten Lösungen basieren, sondern Mehrdeutigkeit und Ambivalenz ganz bewusst zulassen um neue Räume des Möglichen zu eröffnen2.
Fallbeispiele und Fragestellungen
Der reichhaltige Fundus der Architekturgeschichte, steht uns bei dieser Aufgabe als Stichwortgeber zur Verfügung. Die Suche nach beispielhaften Ansätzen in der Vergangenheit führt zu den Wiener Gründerzeithäusern. Diese sind deshalb von Interesse, weil mit ihnen in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum (1848-1918) und innerhalb einer überaus klugen materiellen Kultur eine große Zahl qualitätsvoller Räume errichtet wurde, in denen noch heute gerne gelebt und gearbeitet wird. Die Bauten haben den Nachweis ihrer Praxistauglichkeit erbracht. Aus heutiger Sicht ist das Gründerzeithaus eine ökologisch radikal gedachte Architektur, auch wenn man es ihr nicht ansieht. Kurze Wege und lokal verfügbare Materialien bilden die Grundlage für die Errichtung von Gebäuden mit großteils sortenrein lösbaren Fügungen. In kontinuierlich verbesserten handwerklichen und industriellen Prozessen entstanden so intelligent komponierte Hybride3 mit vielfältig nutzbaren Raumstrukturen. Aus einer spezifisch baukonstruktiv-strukturellen Sicht sticht die vordergründige Einfachheit der Häuser ins Auge. Jedoch ist das „Einfache“ hier keineswegs banal, sondern überaus komplex. Die Bauten sind in der Wahl der Materialien und Fügungen sparsam und undogmatisch. Sie sind nie aus einem Guss, sondern mehr oder weniger virtuose Assemblagen auf Basis von kollektiven Leitgedanken. Sie handeln von Kontinuität, Erinnerung und Maskerade, verdinglichen dabei geradezu Sempers Gedanken zu Stoffwechsel und Karnevalskerzendunst.
Dennoch bleiben die Gründerzeithäuser ambivalent: Dies liegt in der Gleichzeitigkeit einer ausgeprägten Aufbruchsstimmung samt frühindustriell übermütiger Prosperität und dem Vorhandensein äußerst prekärer Lebens- und Arbeitsbedingungen für große Teile der Bevölkerung in der rasant wachsenden Hauptstadt. Ohne den Anspruch zu stellen, diese Widersprüche auflösen zu können, wird hier der Versuch unternommen, durch die präzise Betrachtung der Bauten dieser Epoche ein kritisches Potenzial für eine zeitgenössische Architekturpraxis zu entwickeln. So wird diese Forschung von der Vermutung angeleitet, dass eine Auseinandersetzung mit den Bauten wertvolle Hinweise für ein zeitgenössisches, zukunftsfähiges Bauen liefern kann4. Das führt zu folgenden Fragen:
Ist es möglich Baugedanken im Gründerzeithaus zu identifizieren, die in ihrem Gehalt über das 19. Jahrhundert hinausreichen, und uns als tragfähiges konzeptuelles Gerüst dienen können?
Gibt es ein spezifisches gebautes Wissen der Wiener Gründerzeit, das für die Suche nach zukunftsfähigen Formen des Bauens und Entwerfens nützlich ist?
Methoden
Eine Untersuchung der baukulturellen Transformationen Wiens während der Gründerzeit bildet das zentrale Werkzeug zur Annäherung an diese Fragen. Mit Hilfe exemplarischer Häuserportraits entsteht ein kaleidoskopartiges Bild, das die Vielschichtigkeit der Bauten dieser Epoche zeigt, und die darin enthaltenen Entwicklungen abzubilden und zu erzählen versucht. Die drei Spuren Ressourcen, Techniken und Raumstrukturen bilden dabei die übergeordnete inhaltliche Struktur.
Die Erkenntnisse werden in der Diskussion einer architektonischen Haltung reflektiert, deren Kern ein affirmatives und positives Verständnis des Begriffes Hybridität bildet und Überlegungen zu einer neuen Tektonik formuliert. Die in den Häuserportraits ihren Ausgang nehmenden Spuren werden in Beziehung zu drei korrespondierenden Strategien gebracht. Hierfür werden vorläufig die Begriffe Stoffwechsel, Bricolage und Tektonik vorgeschlagen.